Liebe Freundinnen von Welt,
eine Radtour auf dem Nordseeküstenradweg in Niedersachsen ist ein Kontrastprogramm aus Staunen über die herbe Natur und Begegnungen mit herzlichen Menschen. Mal vor, mal hinter dem Deich – etwa 300 Kilometer von Emden bis Cuxhaven. Von West nach Ost, um den Wind möglichst im Rücken zu haben. Der Plan ging nicht ganz auf, deshalb war ich sehr froh über das E-Bike. Kann ich nur empfehlen, damit radelt es sich mühelos. Unterwegs halte ich an, um einen Leuchtturm zu besichtigen, Ostfriesentee korrekt zu trinken (das ist eine faszinierend komplizierte Zeremonie), im Watt zu wandern und natürlich immer wieder, um zu schnacken. Ich treffe einen Krabbenfischer, einen Kapitänleutnant, eine Künstlerin, den Erfinder der Krabbenpulmaschine, eine Melkhus-Betreiberin, die Ur-Neuharlingersielerin Gisela und viele andere mehr.
Kommt Ihr mit?
Eure Kirsten, Freundin von Welt
Route & Rad
Die Route ist einfach, zu meiner Linken sollte immer das Meer liegen, sonst habe ich mich verfahren. Der gesamte Nordseeküstenradweg ist 6000 Kilometer lang, auf 900 Kilometern schlängelt er sich durch Norddeutschland. Ich habe mir einen Teil in Niedersachsen vorgenommen, von Emden bis Cuxhaven, etwa 300 Kilometer der Küste entlang. Von West nach Ost, um den Wind möglichst im Rücken zu haben. Obwohl das bei dem E-Bike – dem Bergamont SUV Country – keine Rolle spielt. Jedenfalls, was das Vorankommen betrifft, denn das Rad hat ja sozusagen eingebauten Rückenwind.
Warum ist eine Tour auf dem Nordseeküstenradweg etwas für Frauen ab 50? Das meint die Freundin von Welt:
- Freiheit. Weite. Klarheit. So viel Platz für mich. Und dann dieser Himmel!
- Der Weg führt meist geradeaus, ich kann mich auf meine Gedanken konzentrieren anstatt aufs Routing.
- Der Wind pustet den Kopf frei. Und wenn er mal von vorn kommt: Mit dem E-Bike ist das kein Problem.
- Alleine reisen, zu zweit oder mit mehreren Freundinnen – geht alles, der Nordseeküstenradweg ist breit genug, um nebeneinander zu fahren.
- Thalasso! Das bedeutet so viel wie „Heilkraft des Meeres“. An der Nordseeküste ist also schon Atmen pures Thalasso. Wer mehr möchte, lässt sich in Neuharlingersiel mit Schlick einstreichen – Wellnessglück!
- Der Natur ganz nah. Die Route führt direkt am UNESCO Weltnaturerbe Wattenmeer entlang – ein faszinierender Lebensraum (auf den zweiten Blick).
- Genussmomente! Krabben frisch vom Kutter, Ostfriesentee bei jeder Gelegenheit (und wer es richtig macht, kann damit sogar die Zeit anhalten). Hier ist es lecker!
- Spontan losfahren? Kein Problem – wenn nicht gerade Ferienzeit ist. Dann besser in den Hotels vorbuchen. Tolle Unterkünfte findet Ihr in den Tipps unter den Etappen.
Anreise zum Nordseeküstenradweg mit der Bahn
Das Schwierigste am Anfang: Die Bahnanreise von Hamburg nach Emden, wo ich mit meiner Tour auf dem Nordseeküstenradweg starten möchte. Das Rad ist schwer, es wiegt allein schon 27 Kilogramm. Habe schmal gepackt, fast hätte ich meine Isolier-Teekanne nicht mitgenommen. Dann aber doch – wie könnte ich ohne sie reisen?
Im Metronom bin ich dann fast allein, mein Rad und ich haben genug Platz. Und am Bahnhof in Bremen, wo ich umsteige, funktionieren die Aufzüge einwandfrei. Auch das Aussteigen in Emden ist kein Problem. Die Rückfahrt von Cuxhaven bis Hamburg ebenfalls unproblematisch.
Meine Etappen auf dem Nordseeküstenradweg – von Emden bis Cuxhaven
Nordseeküstenradweg, Tag 1: Von Emden nach Greetsiel, ca. 50 km
Engelchen und Ottifanten: Emden
In Emden führt das Wasser bis in die Innenstadt, zum Delft, dem alten Hafen. Hier schnuppere ich maritime Geschichte. Um 1570 war Emden der wichtigste Umschlagplatz an der Nordsee. Damals waren in der Seehafenstadt mehr Schiffe beheimatet als die gesamte Flotte Englands umfasste.
Im 2. Weltkrieg wurde Emden zu 80 Prozent zerstört. Erhalten blieb der alte Wallring, 10 Meter hohe Aufschüttungen plus Wassergraben um die Stadt, heute ein Park, ein Grünzug, der sich sanft um die Stadt windet.
Auf die kulturelle Landkarte kam Emden erst 1986, als Henri Nannen die Kunsthalle gründete, erzählt Gästeführerin Lotte Botterbrodt. „Kunst kommt doch nur bis Oldenburg, was sollen wir denn damit?“ fragten die Emder. Mittlerweile ist die Kunsthalle ein kultureller Magnet. Schön am Wasser gelegen (Emden wird von Kanälen durchzogen, man kann sogar „Grachtenfahrten“ unternehmen), mit Café und großer Terrasse und eigenem Bootsanleger.
Ich schiebe mein Rad durch die Stadt, über den Markt. Vorbei an viel rotem Backstein. Gut erhalten sind die beiden Pelzerhäuser, typische Renaissancebauten aus dem 16. Jahrhundert mit ihren beeindruckenden Fassaden und schmucken Giebeln. Hier wurden Pelze gehandelt, Felle jeder Art.
Überall an den Laternenpfählen begegnet mir das „Engelke up de Mür“, das Engelchen auf der Mauer: Das Stadtwappen wurde 1495 zusammen mit den Stadtrechten vom Kaiser in Wien verliehen.
Warum stehen die Kirchtürme in Ostfriesland entfernt von den Kirchen?
Die „gute Stube“ Emdens ist die Johann A. Lasca Bibliothek. Eine ehemalige Kirche, im Krieg zerstört, in den 90er Jahren wieder aufgebaut, jetzt Bibliothek. Drinnen hält gerade der Bürgermeister eine Trauung ab, er hat sich als Standesbeamter ausbilden lassen, weil er das so gerne mag. Übrigens: In Ostfriesland stehen die Türme weiter weg von den Kirchen, wegen des weichen Bodens. Die schweren Bauten sacken einfach zur Seite weg.
Aus dem Haus an der Ecke bricht ein Elefant, Ja, wirklich, aus der roten Backsteinfassade grinst ein Ottifant, vermutlich der meistfotografierte Elefant Ostfrieslands. Im Haus, dem „Otto Huus“, dreht sich alles um Leben und Werk von Otto Waalkes, Emdens berühmtesten Sohn. Unten ein Shop, in der ersten Etage Devotionalien, im 2. Stock ein Kino, in dem nur Otto-Filme laufen. Vor der Tür regelt eine Ottifanten-Ampel den Einlass, damit das kleine, enge Häuschen nicht zu voll wird. Auch die offizielle Ampel an der Straße ist Otto gewidmet: Sie zeigt ein grünes Männchen in der berühmten Hüpfpose des Komikers.
Jetzt aber endlich aufs Rad und los! Es ist ein wenig kompliziert, aus Emden herauszufinden, aber vielleicht nur, weil ich die Routing-App nicht beherrsche. Dann folge ich den Schildern und es läuft. Nordseeküstenradweg, gefunden! Ich sause durch Warftendörfer bis zum Schöpf- und Sperrwerk Knock. Und endlich auch am Deich entlang.
Vorbei an Feldern, auf denen unzählige Nonnengänse weiden. Ob die wohl wegfliegen, wenn ich näherkomme? Nein. Ein Fischreiher landet neben mir, Kiebitze wippen mit ihren Hauben. Eine reiche Vogelwelt überall.
Der Campener Leuchtturm, der höchste Leuchtturm Deutschlands, ähnelt mit seinem Stahlfachwerk dem Eiffelturm. Ein Hauch von Paris am Nordseeküstenradweg in Niedersachsen.
Wo Männer weinen: Der Pilsumer Leuchtturm
Im rot-gelben Ringelsockenlook leuchtet mir sein kleiner Kollege entgegen: der Pilsumer Leuchtturm. Der mit nur 11 Metern kleinste Leuchtturm Ostfrieslands, bekannt aus dem Film „Otto, der Außerfriesische“, macht gute Laune. Dort wartet Gästeführerin Doris Voss auf mich, schon etwas durchgefroren vom Wind. Sie ist auch Koordinatorin der Gästeführergilde und Festrednerin.
Im Turm kann man nämlich auch heiraten. Frau Voss nimmt hier nach Wunsch das 2. Eheversprechen ab. „Das kann man sich jederzeit geben, zu allen Gelegenheiten. Oft zu einem Jubiläum, aber auch nach schwerer Krankheit, einem überstandenen Schicksalsschlag. Man verspricht sich noch einmal, dass man zusammenbleiben möchte. Das ist so schön!“ Ihre Augen leuchten, wenn sie davon erzählt.
Der Leuchtturm war nicht immer rot-gelb-geringelt, das sind keine nautischen Farben. Die Firma Cordes & Graefe Baddesign hat den Anstrich 1979 gesponsort und damit den Turm vom Abriss bewahrt. „Deichbau wird hier seit 1300 Jahren betrieben, wir leben im Goldenen Ring“, sagt Doris Voss, damit meint sie den Deichgürtel. Die Sollhöhe des Deiches ist 10 Meter, die Breite 124 Meter. Vom Turm reicht der Blick über Salzwiesen bis in die Niederlande.
Kann es sein, dass der Turm schwankt?
„Bei einer Feier im Turm kam es schon mal vor, dass ein Mann seekrank wurde. Da mussten wir runter, unten weitermachen,“ erzählt Doris Voss. Nach der Zeremonie dürfen die Gäste oben aus dem Fenster Seifenblasen pusten und ihre Wünsche aufs Meer hinausschicken.“ Das scheint nicht jeder abzukönnen. „Ich sehe viele Männer hier weinen. Überhaupt weinen hier mehr Männer als Frauen. Das sind aber keine Ostfriesen.“
Noch ein paar Kilometer auf dem Nordseeküstenradweg, dann komme ich in Greetsiel an, einer hübschen kleinen Stadt mit putzigen Fassaden. Im Hafen liegen die Krabbenkutter, ein pittoreskes Mosaik aus Netzen hängt von ihren Masten. Im Abendlicht sieht es aus, als würden die Schiffe schlafen und hätten sich nur nachlässig zugedeckt.
Tipps am Nordseeküstenradweg:
Otto-Huus in Emden
Museum, Shop, Ferienwohnung: Das kleine Otto-Huus ist drei-in-eins – und rundherum eine Hommage an den Komiker Otto Waalkes.
datottohuus.de
Pilsumer Leuchtturm
Nur 11 Meter hoch, rot-gelb geringelt wie eine Socke und bekannt aus dem Film „Otto – Der Außerfriesische“. Im Trauzimmer können sich Paare das Ja-Wort geben.
greetsiel.de
Übernachtungstipp in Greetsiel: Witthus
Zum Hotel gehören mehrere alte und neue Häuser. Meine Suite ist schön, geräumig, sehr komfortabel. Zum Abendessen im Hotelrestaurant bestelle ich „Wellen und Wogen“, so sind die Matjesstücke und Krabbenhäufchen auch angerichtet. Dazu Bratkartoffeln und die Welt ist in Ordnung.
witthus.de
Nordseeküstenradweg, Tag 2: Von Greetsiel nach Norden, ca. 25 km
Klönschnack mit dem Krabbenfischer
Im Hafen treffe ich Ubbo Looden, 57 Jahre, Krabbenfischer, der jetzt Gästefahrten anbietet. Er zeigt mir sein Boot, die Nordstern, einen alten Holzkutter, den „so niemand heute mehr bauen würde“, wie er sagt. Er liebt das Knarzen des Holzes, nachts auf See. Sein goldener Ohrring funkelt in der Sonne. Vieles hat sich verändert, Krabbenfischen ist nicht mehr rentabel. Und die Natur? Die Nordweststürme, die fehlen.
Jetzt ein Snack: Ein Krabbenbrötchen bei de Beer. Mit heimisch gepulten Krabben kostet das 8 Euro. Für ein Brötchen!
Ich winke den Greetsieler Zwillingsmühlen – von denen nur eine gerade ihre Flügel trägt, die Blätter der anderen werden gewartet, und mache mich auf den Weg nach Norden (die Stadt). Dabei kürze ich die offizielle Tour ab, radele am Wasser entlang und nicht die Schleife über Marienhafe.
Die älteste Stadt Ostfrieslands: Norden
Norden ist die älteste Stadt Ostfrieslands, hat 15.000 Gästebetten. Mir begegnet eine Boßeltruppe.
Der Marktplatz in Norden ist der größte baumbestandene Marktplatz Europas, die dort angrenzenden „Dree Süsters“ (drei Schwestern) sind hübsche Backsteinhäuser im Stil der Renaissance. Eine der Schwestern musste 1963 einem Parkplatz weichen, wurde aber 1991 rekonstruiert.
Das Ostfriesische Teemuseum erstreckt sich verwinkelt über fünf alte Häuser. Darin präsentiert Frau Bardelmeier die Teezeremonie (die einen Extra-Blogbeitrag wert ist), sie wird mir ein „lecker Kopje Tee servieren“.
Ostfriesen haben viele Gründe, stolz auf ihren Tee zu sein, sagt sie. Zwei davon:
Die Ostfriesische Teezeremonie ist seit 2016 UNESCO Welterbe. Und: Ostfriesen sind die weltbesten Teetrinker.
Abends radele ich noch nach Norden-Norddeich, dort wurde die Deichpromenade neugestaltet, mit raffinierter Beleuchtung. Auch der Strand mit der Dünenlandschaft ist frisch angelegt. Man könnte glauben, man sei am Meer, wenn das nicht gerade mal wieder weg wäre. Dafür ist Platz auf dem Wattfenster, einer Treppe mit großen Sitzstufen, die bis zum Meeresboden reicht – mit Blick Richtung Sonnenuntergang.
Tipps am Nordseeküstenradweg:
Hafen von Greetsiel
Der malerische Hafen wird regelmäßig von 25 Krabbenkuttern angesteuert, Ostfrieslands größter Kutterflotte. Tipp: Kutterfahrt mit Kapitän Ubbo Looden.
kutterfahrten-greetsiel.de
Zwillingsmühlen Greetsiel
Die beiden Mühlen am Ortseingang von Greetsiel sind ein Blickfang. Im Mühlenladen gibt es täglich frisches Brot, im Kornspeicher ein Café.
greetsiel.de
Ostfriesisches Teemuseum
Alles über Tee und die Ostfriesische Teekultur zeigt das Museum in Norden, das sich verwinkelt über mehrere historische Häuser erstreckt.
teemuseum.de
Nordseeküstenradweg, Tag 3: Von Norden-Norddeich bis Neuharlingersiel, ca. 50 km
Wale und Seehunde in Norden-Norddeich
Im ehemaligen Sendergebäude von Norddeich Radio ist das „Waloseum“. Gedacht war es als Quarantänestation für die nahe gelegene Seehundstation. Doch das Haus ist groß, da war noch Platz für eine Ausstellung, erzählt der Leiter Dr. Peter Lienau.
Star der Ausstellung ist das Skelett eines von zwei Pottwalen, die 2003 zwischen Norderney und Spiekeroog strandeten. Die beiden Bullen sind wohl falsch abgebogen, trockengefallen und gestorben, weil die körpereigene Kühlung nicht mehr funktionierte.
Klickgeräusche tönen durch den Raum, Dr. Lienau erzählt mitreißend und sehr detailreich von der aufwendigen (und blutigen) Bergung – und warum ein Walpenis-Modell ausgestellt ist. (Falls Dr. Lienau gerade nicht zur Hand ist: Es gibt auch einen Film zu sehen.)
Auf der Quarantänestation, in die man durch kleine Fenster gucken kann, tummeln sich im Sommer ab Juni die kleinen Heuler. Jetzt watschelt nur ein Schwan darin herum, der sich von einem Beinbruch erholt.
Das größte Problem des Seehunds ist seine Niedlichkeit – und wie der Mensch darauf reagiert.
Tim Fetting, leitender Tierpfleger in der Seehundstation
Seehunde gibt es über 10.000 in Niedersachsen, Kegelrobben etwa 600. Ein paar von ihnen treffe ich in der Seehundstation. Dort werden die Heuler (also: verwaiste Jungtiere) aufgepäppelt, dann wieder ausgewildert. „Das größte Problem des Seehunds ist seine Niedlichkeit – und wie der Mensch darauf reagiert“, sagt Tim Fetting, der leitenden Tierpfleger. Sein Appell: Wer einen Seehund am Strand sieht, sollte Abstand halten, mindestens 300 Meter. Nein, das reicht nicht für ein Handy-Foto. Die Seehundstation wird von einem Verein betrieben, der Eintritt unterstützt die wichtige Arbeit.
Respektvoller Abstand ist auch gut für die eigene Sicherheit: Seehunde sind Raubtiere und haben ein Raubtiergebiss voller spitzer Zähne. Damit halten sie ihre Beute fest, dann schlucken sie sie in einem Stück. Wenn man gebissen wird, auch wenn es nur ein kleiner Ratscher ist, muss man binnen 30 Minuten zum Arzt und Antibiotika bekommen. Sonst drohen schwerste Entzündungen, denn der Seehund-Speichel ist voller Bakterien.
Beschleunigt von den Elementen
Draußen hat das Wetter gewechselt. Der Wind weht heftig und es regnet in Strömen. Auf meinem Weg nach Neuharlingersiel fahre ich mal hinter, aber meist vor dem Deich entlang. An der Wasserkante. Mit Rückenwind bin ich 25, 28 km/h schnell, ohne den Motor einzuschalten. Anhalten? Geht nicht. Hoffentlich halten die Radtaschen dicht.
Ich bin den Elementen ausgesetzt, aber ich fühle mich auch von ihnen behütet, seltsam. Und beschleunigt.
Das graue Meer geht nahezu nahtlos in den grauen Himmel über, kein Horizont. Dafür Weite, unendliche Weite. Ich komme mir sehr klein vor. Die Wellen lecken gierig am Deich.
Aufwärmen mit Schlick in Neuharlingersiel
Tropfnass komme ich in Neuharlingersiel an. Unterwegs bin ich keinem Menschen begegnet.
Im BadeWerk werde ich schon erwartet. Ich bekomme ein Rundum-Sorglos-Paket in die Hand gedrückt (zwei Handtücher, ein Bademantel, kuschlige Badeschlappen) und darf zur Thalasso-Anwendung. Thalasso ist die Heilkraft des Meeres, also zählt meine Radtour eigentlich auch schon dazu. Aber nun werde ich mit Schlick bestrichen, warm eingepackt und unter mir ein Wasserbett geflutet. Herrlich fühlt sich das an, so geborgen, mehr Entspannung geht nicht. Der Schlick wird nicht etwa aus dem Watt gebuddelt, sondern aus einer Schlickblase gewonnen, die vor 400 Jahren auf natürliche Weise vom Meer abgetrennt und luftdicht abgeschlossen wurde. Seine Reinheit, seine heilende Wärme, die wertvollen Mineralien und Spurenelemente lindern nicht nur allerlei Beschwerden und Hautprobleme, sondern fördern zusätzlich die Durchblutung und stärken das Immunsystem.
Danach noch eine Ganzkörpermassage (hoffentlich habe ich den Schlick auch wirklich gründlich abgeduscht). Die Wellness-Therapeutin hat magische Hände, löst die Verspannungen in Schultern und Nacken und massiert meine Füße gerade so, dass es nicht kitzelt. Danach noch ein Tee (bin ja immer noch in Ostfriesland) und ein bisschen in die Sauna. Dampfbad, Salzraum, Hafensauna.
Tipps am Nordseeküstenradweg:
Waloseum in Norden
Mittelpunkt Ausstellung ist das Skelett eines Pottwals, der 2003 vor Norderney gestrandet ist. Im Waloseum befindet sich auch die Quarantänestation der Seehundstation.
Seehundstation-norddeich.de/waloseum
Seehundstation Nationalpark-Haus
In Norden-Norddeich werden verwaiste Heuler großgezogen, dann wieder ausgewildert. Gut durch eine Panoramascheibe auch unter Wasser zu beobachten sind die Fütterungen. Dazu eine große Ausstellung über Seehunde, Kegelrobben und das Wattenmeer.
seehundstation-norddeich.de
BadeWerk Neuharlingersiel
Wellness auf höchstem Niveau im Thalasso-Zentrum. Meerwasser und Naturschlick tun so gut! Das Angebot reicht von Schwimmbad und Sauna bis zu Fitness und Massagen.
badewerk.de
Übernachtungstipp in Neuharlingersiel: Hotel Janssen
Mein Zimmer ist ganz neu, aus dem Fenster habe ich Blick auf Hafen und Krabbenkutter. Im Hotelrestaurant gibt es einen leckeren Pannfisch-Teller. Und das Badewerk ist gleich nebenan.
hotel-janssen.de
Nordseeküstenradweg, Tag 4: Von Neuharlingersiel bis Wilhelmshaven
Wattwanderung: „Das Leben ist so üppig!“
Für die Wattwanderung mit dem Biologen Bernd Koopmann ziehe ich Neoprensocken an. Darin werden meine Füße zwar nass, aber nicht so kalt. Der Biologe trägt Gummistiefel.
Eine Grabegabel hat Herr Koopmann nicht dabei. Große Gruppen, sagt er, erwarten einen Wattwurm auf der Hand. „Aber bis man einen ausgegraben hat, tut man vielleicht zwei oder drei anderen weh.“ Das wollen wir nicht.
Das Watt ist ein Ablagerungsort: Sand, feine Teile wie Schluff und Ton, organische Bestandteile. All das bringt das Wasser aus der Nordsee mit. Jedes Mal. Und all das bleibt dort liegen, wo es die Gelegenheit dazu hat. Wo viel Bewegung ist, bleibt nur das liegen, was am schwersten ist: der Sand. Wir stehen im Sandwatt, der Boden unter den Füßen ist recht fest. Im Jadebusen vor Dangast sieht das ganz anders aus: da ist Schlickwatt, in dem man einsinkt.
„Wattwanderungen vor Dangast sind nur was für die Sportlichen. Manche outen sich erst nach 200, 300 Metern, wenn sie nicht mehr weiterkommen, als doch nicht so sportlich“, sagt Herr Koopmann.
„Dieser Lebensraum ist was Besonderes auf Erden!“ Wenn man den Jadebusen mal 50 nimmt, hat man die Fläche des Wattenmeers. Ganz schön groß – aber wenn man das auf einem Globus sucht, doch ganz schön klein.
50 shades of grey: Das Watt hat viele Gesichter
Der Wattführer erklärt: „Das Watt hat viele Gesichter. Kleine Rippeln, große Rippeln und sogar Mega-Rippeln, bis zu 5 Meter hoch, zwischen den Inseln. Zwischen den Inseln, diese Engstelle, ist wie eine Düse. Das einzig Beständige im Watt ist das Unbeständige. Wer hier lebt, muss damit umgehen können, muss Anpassungsspezialist sein. Der Lebensraum ist herausfordernd: Mal ist das Wasser da, mal nicht, mal ist es salzig, bei Regen wieder süßer, mal ist es dunkel (im trüben Wasser), mal hell, mal kalt, mal heiß.
Das Watt ist trotzdem (oder gerade deswegen) ein beliebter Lebensraum bei Tieren, Pflanzen, Pilzen, Einzellern, Heimat von rund 10.000 verschiedenen Arten. Und von manchen jede Menge: Auf einem Quadratmeter leben 40.000 Wattschnecken. Das mal hochrechnen! Und dann kommen dazu kleinere und noch kleinere Tiere. Das Leben ist so üppig! Es gibt eine enorm hohe Biomasse im Watt, sie ist geradezu sensationell. Die Tiere können sich ausgiebig vermehren – darüber freuen sich auch die anderen Tiere.“
Einmal hat er einen grünen Seeringelwurm gefunden, das war beeindruckend: Der wird bis zu 90 cm lang, ein Räuber, sehr kräftig. „Der hat so gezappelt, ich konnte die Hand gar nicht ruhig halten.“
So war Neuharlingersiel früher: Teestunde im Sielhofschlösschen
Wieder im Trockenen, zeigt mir Frau Meyer-Dethlefs den Sielhof – das „Sielhof-Schlösschen“ mit der weltgrößten Bibelkachelsammlung, über 800 Stück. Anhand der bemalten Kacheln wurden früher Geschichten erzählt.
„Teetrinken, das ist Gemütlichkeit. Das ist nicht wie Kaffee.“
Gisela ter Haar, Ur-Neuharlingersielerin
Im Sielhof bin ich zur Teestunde mit Gisela ter Haar verabredet. Gisela ist eine mitreißende Erscheinung, wenn sie lacht, lacht der ganze Raum. Sie verströmt eine patente Herzlichkeit und hat den Tee schon vor mir aufgebaut. „Teetrinken, das ist Gemütlichkeit. Das ist nicht wie Kaffee“, sagt sie. Die Gäste wollen von ihr wissen, wie es früher in Neuharlingersiel war – und davon erzählt sie gerne.
Die Kurverein-Damen kochen mir nach der Plauderstunde noch einen Tee für meine Isolierkanne, drücken mir ein gut verpacktes Stück Kuchen in die Hand und schicken mich auf den Weg nach Wilhelmshaven.
Es geht vor und hinter dem Deich entlang. Ein Panorama in Grautönen. Doch der Deich ist grün – und auf einem Abschnitt springen Lämmer darauf herum. Pausenplätze gibt es so gut wie keine, jedenfalls keine überdachten. Doch, 20 Kilometer vor Wilhelmshaven steht eine kleine Hütte am Wegesrand. Ein Wanderer setzt sich zu mir, ein „Pollenflüchtling“ aus dem Sauerland.
Dann kommt die Stadt. Eine Stadt mit Strand. Mit Südstrand. Dort sammeln sich auch die touristischen Highlights: Das Aquarium, das UNESCO-Weltnaturerbe Wattenmeer Besucherzentrum und gleich gegenüber das Deutsche Marinemuseum.
Tipps am Nordseeküstenradweg:
Wattwanderung
Einen Spaziergang auf dem Meeresboden – sollten Sie sich nicht entgehen lassen. Ich war mit dem Biologen Jens Koopmann in Neuharlingersiel unterwegs.
neuharlingersiel.de
Sielhof Neuharlingersiel
Im Haus des Gastes im historischen Sielhof plaudert die Neuharlingerin Gisela beim Tee aus dem Nähkästchen. Bezaubernd!
sielhof.de
Fliegerdeich Hotel & Restaurant in Wilhelmshaven
Neu, stylisch, unkonventionell. Tolle Lage mit Meerblick!
hotel-fliegerdeich.de
Nordseeküstenradweg, Tag 5: Von Wilhelmshaven bis Dangast
Im Eingangsbereich des UNESCO-Weltnaturerbe Wattenmeer Besucherzentrums grüßen Schweinswale. Ich lerne: Wilhelmshaven ist ein Hotspot für Schweinswale. Im Frühjahr kommen die Meeressäuger in den Jadebusen, sie lassen sich sogar vom Südstrand aus beobachten.
Das Wattenmeer Besucherzentrum ist komplett neu gestaltet, die große Ausstellung über mehrere Ebenen modern mit vielen interaktiven Elementen. Die Ebenen sind Themen gewidmet, ich fange unter Wasser an und arbeite mich bis zu den Vögeln hoch.
Wilhelmshaven, Stadt der Schiffe
Das Deutsche Marinemuseum gegenüber zeigt unter dem Motto „Menschen – Zeiten – Schiffe“ die Geschichte der deutschen Marinen von 1848 bis in die Gegenwart. Im dazugehörigen Museumshafen können Besucher Schiffe besichtigen und sich durch ein U-Boot zwängen. Das Marinemuseum verweist auf das, was die Stadt ausmacht: Wilhelmshaven wurde als Marine-Stadt gegründet und ist heute der größte Standort der Bundeswehr überhaupt. Auf einer Pierlänge von über vier Kilometern liegen hier Fregatten und Versorger.
Kapitänleutnant Priewe zeigt mir das Marinegelände und erzählt von den geplanten Investitionen.
Bei Gegenwind fahre ich auf dem Nordseeküstenradweg weiter nach Dangast. Unterwegs komme ich an dem kleinen Flugplatz vorbei, wo Reinhard Mey angeblich zu seinem Hit „Über den Wolken“ inspiriert hat. Wolken sind jedenfalls reichlich da. Und jetzt auch Regen. Von vorne. Sozusagen Gegenregen.
Radziwill in Dangast: Das Malerhaus im ältesten deutschen Festlandküstennordseebad
Dangast ist das älteste Nordseebad an der deutschen Festlandküste. Gegründet wurde es 1804 vom Grafen aus Varel, der seiner Frau was Gutes tun wollte: So entstand das Seebad nach englischem Vorbild. Mit einem Conversationshaus, eine Kutscherstube, Logierhäusern und einem Warmbadehaus.
Dangast, die kleine Siedlung auf einem Geestkliff und offiziell Stadtteil von Varel, ist bekannt als Künstlerort. Die „Brücke“-Maler Max Pechstein, Karl Schmidt-Rottluff und Erich Heckel haben Dangast ab 1907 als Inspirationsort für sich entdeckt. Die Natur, die Ruhe und vor allem das Licht faszinierte sie. Mit ihnen kam auch der Maler Franz Radziwill – und blieb. Das Haus, dass er in den 1920er Jahren kaufte und selbst weiter ausbaute, ist weltweit eines der wenigen Malerhäuser, die im Originalzustand erhalten sind. Ich besichtige die aktuelle Ausstellung, Portraits. Und sehe aus dem Fenster, an dem Radziwill stand und malte.
Das Radziwill-Haus, eine gemauerte Biographie
Den Dangast-Tipp bekam Radziwill 1920 von Karl Schmidt-Rottluff. Radziwill kaufte eine kleine Fischerkate, die er, der gelernte Maurer, erweiterte. Einen Atelierturm baute er an, für die Küchenwände sammelte er friesische Kacheln, auch die Möbel entwarf und bemalte er selbst. Sechzig Jahre, bis zu seinem Lebensende, hat er hier gewohnt und gearbeitet. Eine gemauerte Biografie.
Auch Radziwill wurde zunächst etwas schief angesehen, sagt Gästeführer Karl-Heinz Martinß. „Das war ja brotlose Kunst. Er wurde im Ort aber respektiert, weil er sich für die Natur eingesetzt hat, als Vogelschutzwart. Die Bilder fanden die Dangaster aber komisch. Heute ärgert sich mancher, dass er damals nichts gekauft hat.“ Eine Zahnarztrechnung soll Radziwill mal mit einem Bild beglichen haben.
Mit dem Fahrrad, einem Fernglas und einer Trillerpfeife fuhr der Künstler herum. Wer Müll liegen ließ, wurde angepfiffen. Liebespaare vertrieb er aus dem Schilf, sie sollten die Vögel nicht stören. Berühmt wurde er für seine Landschaften mit riesigen Schiffen, bedrohlichen Flugzeugen oder beeindruckenden Lichtphänomenen.
Tipps am Nordseeküstenradweg:
Wattenmeer-Besucherzentrum Wilhelmshaven
In Wilhelmshaven ist das größte Bildungs- und Informationszentrum für den Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer. Die neue Ausstellung wird interaktiv und digital.
wattenmeer-besucherzentrum.de
Deutsches Marinemuseum
Marinegeschichte von 1848 bis heute – mit Original-Schiffen im Museumshafen.
marinemuseum.de
Franz Radziwill-Haus
1920 kam Franz Radziwill nach Dangast. Heute ist sein Haus weltweit eines der wenigen Malerhäuser, die im Originalzustand erhalten sind.
radziwill.de
Nordseeküstenradweg, Tag 6: Von Dangast nach Butjadingen
„Wie stark man die Farben hier findet, eine Intensität wie sie kein Pigment hat, fast zu scharf für das Auge!“
Karl Schmidt-Rottluff
Kurhaus und Kunstpfad in Dangast
Vor dem Kurhaus beginnt in Dangast beginnt der Kunstpfad, den will Gästeführer Karl-Heinz Martinß mir zeigen. 20 Bildtafeln zeigen, wo die Künstler ihre Motive fanden.
Die Expressionisten der Künstlergruppe Brücke entdeckten Dangast 1907 und kamen mehrere Sommer hintereinander. Doch wie kamen Karl Schmidt-Rottluff, Erich Heckel und Max Pechstein auf Dangast? Da gibt es verschiedene Theorien: Sie hatten Kontakt zum Oldenburger Kunstverein. Sie sahen in den Zeitungen Werbung für Dangast. Es gab eine durchgehende Zugverbindung von Dresden bis Wilhelmshaven, in Dangastermoor, zwei Stationen vor Wilhelmshaven sind sie ausgestiegen. Und dann verrät Herr Martinß noch eine weitere Theorie: Die Künstler haben eine Karte von Norddeutschland ausgebreitet, einem die Augen verbunden und der hat einfach mit dem Finger darauf gezeigt.
„Es ist unglaublich, wie stark man die Farben hier findet, eine Intensität wie sie kein Pigment hat, fast zu scharf für das Auge“, schrieb Karl Schmidt-Rottluff 1909. Das Rot der Ziegeldächer und der Backsteine. Das Blau des Himmels. Das Grün der Wiesen und Weiden. Das Schwarz-Weiß der Kühe darauf. Das sind die Farben, die in den Bildern der Expressionisten wichtig sind.
Kunst am Strand: die nackte Dame und der Riesen-Phallus
In den 1970er Jahren gab es einen neuen Kunst-Schub in Dangast: Düsseldorfer Beuys-Schüler, angeführt von Anatol, gründeten im Kurhaus die Freie Akademie Oldenburg, veranstalteten Happenings vor dem alten Kurhaus, am Privatstrand der Familie Tapken. Der Strand ist für alle Besucher offen, kostet keine Kurtaxe.
Hier stehen Kunstwerke. Die Jade, eine nackte Dame in Grün, hat der Beuys-Schüler Anatol Herzfeld in Watt gestellt. Sie wacht über den Jadebusen und begrüßt die Boote. Auf einem Holzthron, dem Kaiserstuhl von Butjatha, fühle ich mich majestätisch.
Aufsehen erregte der 3,20 Meter hohe Phallus aus Granit, den der Bildhauer Eckart Grenzer 1984 an die Grenze von Watt und Strand postierte.
„Begegnungen der Geschlechter“ heißt das Werk und stellt das Männliche da, das vom weiblichen Meer umschlungen wird. „Riesen-Penis im Watt – Kunst?“ lautete noch eine der vorsichtigen Schlagzeilen. Inzwischen regt sich niemand mehr auf. Der Phallus wurde akzeptiert. Eine Frauengruppe hat ihm im Winter ein Mützchen gestrickt, zum Welt Aids Tag bekommt er eine rote Schleife.
Legendärer Rhabarberkuchen: Kurhaus Dangast
Im Kurhaus Dangast treffe ich Maren Tapken zu Tee und Rhabarberkuchen. Der ofenwarme Kuchen ist legendär, herrlich saftig und süß-säuerlich, mit einer zarten Baiserschicht.
„Seid nett zu den Künstlern,
Urgroßmutter Tapken vom Kurhaus Dangast
wer weiß, was aus ihnen mal wird.“
Das Kurhaus ist eine Institution, eine Legende und seit 1884 in den Händen von Familie Tapken, mittlerweile in fünfter Generation. Urgroßmutter Tapken sagte immer: „Seid nett zu den Künstlern, wer weiß, was aus ihnen mal wird.“
„Die Tradition soll bestehen bleiben“, sagt Maren Tapken. „Mit viel Kunst, offenem Blick und mit offenem Herzen“ führt sie das Haus. Kulturpädagogik mit Schwerpunkt Kunst hat sie studiert, dann eine Hotelfach-Ausbildung hinterhergeschoben – und ist in ihre Heimat zurückgekehrt. Nach Dangast, diesen einzigartigen Künstlerort am Jadebusen. „Wichtige Strömungen der Kunstgeschichte wurden hier geprägt: Der Expressionismus durch die Brücke-Künstler. In den 1970er die Freie Akademie der Beuys-Schüler. Und dazwischen Franz Radziwill.“
Mittendrin das Kurhaus als Dreh- und Angelpunkt. Es steht auf einem Geestkliff, den mit Kunstwerken gespickten Strand davor habe ich mir gerade angesehen.
„Durch das Zusammenspiel von Licht, Wasser und Wetter gibt es immer wieder neue Sichtweisen auf die Natur“, sagt Tapken, die kontinuierlich daran arbeitet, neue Kunstwerke herzuholen. Musik spielt im Kurhaus auch eine Rolle, von den Beat-Abenden in den 1950er über Punk-Konzerte bis zum jährlichen „Watt en Schlick Fest“ im Sommer.
Das Rezept des Rhabarberkuchens finde ich nicht heraus, das ist geheim. Und wer backt den? „Mein Mann“, sagt Maren Tapken.
Sehestedt: Das schwimmende Moor kurz vorm Verschwinden
Auf meiner Strecke am Nordseeküstenradweg liegt Sehestedt, dort: das „Schwimmende Moor“, ein einzigartiges Relikt der Geschichte des Jadebusens. Bei hohen Sturmfluten schiebt sich das Salzwasser unter den riesigen Torfkörper und hebt es an. Vor 1000 Jahren bestand noch ein Drittel der Fläche des heutigen Jadebusens aus Hochmoor, das von schweren Sturmfluten nach und nach „abgeräumt“ wurde. Nach Eindeichung der Bucht blieb das Schwimmende Moor bestehen, ist aber nur noch etwa neun Hektar groß. Und bei jeder Sturmflut wird es etwas kleiner. Bei jedem Aufschwimmen und Wiederabsetzen bricht etwas ab. Irgendwann wird es ganz verschwunden sein.
Weiter geht die Fahrt nach Butjadingen, diesem kleinen Kopf da oben auf der Karte zwischen Jade und Weser. In Eckwarderhörne – auf dem Hörnchen sozusagen – werde ich fast ins Meer gepustet. Dort steht ein hoher roter Leuchtturm. Ein paar Kitesurfer probieren ihre waghalsigen Kunststückchen.
Tipps am Nordseeküstenradweg:
Dangaster Kunstpfad
20 Tafeln an Standpunkten, wo Maler ihre Motive fanden, vermitteln Einblicke in die künstlerische Vergangenheit Dangasts.
dangast.de
Kurhaus Dangast
Der Rhabarberkuchen! Legendär!
kurhausdangast.de
Nordseeküstenradweg, Tag 7: Von Butjadingen nach Wremen an der Wurster Nordseeküste
Den Salzwiesen beim Wachsen zusehen
Butjadingen ist die Halbinsel zwischen Jadebusen und Weser. Ruhig, grün, etwas abseits der bekannten Touristenpfade. Und heute stürmisch. In der Nordsee-Lagune könnte ich trotzdem baden. Das ruhige Gewässer ist der erste Meerwasser-Badesee, in dem es weder Ebbe noch Flut gibt. Zu kalt ist es mir trotzdem.
Lieber noch etwas Kunst gucken. Und hören. Bärbel Deharde, Künstlerin und Erfinderin der „Butjenter Hörstühle“, zeigt mir ihre Arbeiten und die Skulpturen der Kunstpromenade zwischen Fedderwardersiel und Burhave.
Der vielleicht schönste Wanderweg Norddeutschlands ist der etwa fünf Kilometer lange Rundweg durch den Langwarder Groden. Ein Bohlenweg führt über das Watt, bei Flut hat man das Gefühl, über Wasser zu gehen. „Groden, das bedeutet: wachsendes Land“, erklärt Dr. Anika Seyfferth, Leiterin des Nationalparkhauses in Fedderwardersiel. Hier kann man die Entwicklung der Salzwiese hautnah miterleben, der Wiese beim Wachsen zugucken. Auch für Vogelbeobachtungen ist der Ort ideal. Das UNESCO-Weltnaturerbe Wattenmeer gilt als Drehscheibe des Vogelzugs und wichtigstes Feuchtgebiet für Vögel in Europa. Der Langwarder Groden sieht jeden Tag anders aus. Die Natur zeigt sich hier immer wieder neu. Man muss nur genau hinsehen. Nichts bleibt, wie es ist. Und das ist gut so.
„Wir müssen lernen, mit der Nordsee zu leben, Hand in Hand, anders wird es nicht funktionieren.“
Dr. Anika Seyfferth
Als der Langwarder Groden zum Naturschutzgebiet wurde, waren die Butjadinger skeptisch. Der Sommerdeich, also der Deich vor dem Deich, sollte weg. Aber Deich ist Leben! Ohne Deich würde Butjadingen volllaufen wie eine Badewanne. Es wurde ein Kompromiss geschlossen, der Sommerdeich durfte bleiben, bekam aber eine Lücke.
„Wir müssen lernen, mit der Nordsee zu leben, Hand in Hand, anders wird es nicht funktionieren“, sagt Dr. Anika Seyfferth.
Strand-Dreizack an der Wurster Nordseeküste
Eine Fähre bringt mich und mein Rad über die Weser, ich lasse Bremerhaven hinter mir und bin an der Wurster Nordseeküste. Mit Wurst hat das nichts zu tun, es bedeutet „Land der Wurten“. Wurten oder auch Warften sind aufgeschüttete Hügel, auf denen die Häuser auch bei „Land unter“ trocken stehen.
Der Deichhof in Wremen liegt auf so einer Wurt, das über 200 Jahre alte Bauernhaus, die dazugehörige Scheune und das idyllische Wehldorf. Ein Wehl ist übrigens ein von einem Deichbruch übrig gebliebener Teich. Der Deichhof ist kein Bauernhof mehr, sondern voller schöner Ferienwohnungen, betrieben von der Familie Dircksen. Dircksens Vater war der bekannte Ornithologe Rolf Dircksen, geprägt von der Natur des Wattenmeers.
In den Salzwiesen im Deichvorland der Wurster Nordseeküste wächst ein ganz besonderer Schatz: Röhrkohl, auch Strand-Dreizack genannt. Den dürfen nur Einheimische für ihren eigenen Teller ernten. Einzige Ausnahme ist der Koch Björn Wolters. Im Mai und Juni bietet er in seinem Restaurant Zur Börse Röhrkohl-Gerichte an. Röhrkohl-Pesto, Reibekuchen mit Röhrkohl, sogar Schokolade mit Röhrkohl. Die Halme schmecken ein wenig salzig, nach Watt, ein bisschen nach Koriander. Raffiniert regional. Doch nicht nur wegen des Röhrkohls lohnt sich ein Besuch in Wolters Zur Börse. Das Restaurant ist seit 2007 durchgehend mit einem Michelin Bib Gourmand für bestes Preis-Leistungs-Verhältnis ausgezeichnet. Und eigentlich jeden Abend ausgebucht.
Tipps am Nordseeküstenradweg:
Langwarder Groden
Auf einem 5,7 km langen Rundweg die Natur des Wattenmeeres entdecken. Ein Bohlenweg führt direkt hinein in 70 Hektar Salzwiesenentwicklungsfläche.
butjadingen.de
Nationalparkhaus-Museum Fedderwardersiel
Kombination aus Nationalpark-Haus und Regionalmuseum am Hafen von Fedderwardersiel. Shop mit nachhaltigen und regionalen Produkten und Kunst.
nationalparkhaus-wattenmeer.de
Gasthaus Wolters Restaurant Zur Börse in Wremen
Björn Wolters ist der einzige Koch, der Röhrkohl anbieten darf. Falls gerade nicht Saison ist: Alles andere schmeckt auch köstlich.
zur-boerse.de
Der Deichhof
Charmante Ferienwohnungen im ehemaligen Bauernhof an der Wurster Nordseeküste. Das Meer ist gleich nebenan. Das liebevolle, hervorragende Frühstück nicht verpassen!
deichhof.de
Nordseeküstenradweg, Tag 8: Von der Wurster Nordseeküste nach Sahlenburg, kurz vor Cuxhaven
Maschinenfleisch, Melkhus und ein Fenster zum Watt
Auf meinem Weg auf dem Nordseeküstenradweg Richtung Cuxhaven habe ich noch weitere kulinarische Stopps.
„Maschineller Krabbenschälbetrieb“ verkündet das alte Schild. Hier bekomme ich mein Krabbenbrötchen mit „Maschinenfleisch“ – wobei diese Bezeichnung noch mal zu überdenken wäre. Früher wurden in jedem Haushalt an der Küste Krabben gepult. Aus Hygienegründen wurde das irgendwann verboten. Deshalb werden die Krabben jetzt in Marokko geschält, in gigantischen Hallen von Tausenden Frauen. Oder von der von Alwin Kocken von 1972 bis 1986 entwickelten Schälmaschine. Die funktioniert so: Durch ein Vakuum werden die Krabben fixiert, mit Druckluft wird das Fleisch ausgeblasen. Der Vorteil: Die Krabben können sofort verarbeitet werden, müssen nicht erst weit hin- und hertransportiert werden. Das Problem: Die Krabben sind alle verschieden, manche kommen sauber gepult aus der Maschine, manche mit Schale. Es muss nachsortiert werden, das kostet. Alwin Kocken, der Erfinder selbst, kommt vorbei, mit seiner Kapitänsmütze sieht er aus wie ein Seebär, er ist über 80 Jahre alt. 90 Kilo Krabben schafft seine Maschine in sechs Stunden, ein Viertel des Gewichts bleibt als essbares Krabbenfleisch übrig. Jetzt gibt es einen neuen Forschungsansatz für eine Krabbenpulmaschine mit Ultraschall-Technik.
Pause mit Buttermilchshake vom Biohof
Das Melkhus vom Biolandhof Fischer liegt direkt am Radweg. Im Kühlschrank stehen Milchreis, Schokopudding, Quarkspeisen, Buttermilchshakes und andere Köstlichkeiten zur Selbstbedienung, bezahlt wird in eine Kasse des Vertrauens. Beim Milchshake-Trinken sehe ich den Schweinen zu, wie sie in ihren Ausläufen im Dreck wühlen.
Ada Fischer hat eine Bitte an die Radfahrer: „Die landwirtschaftlichen Wege, auf denen die Radfahrer unterwegs sind, die brauchen wir auch.“ Zur Erntezeit besonders. Wenn also ein Traktor kommt: Zur Seite fahren, durchlassen. Die Landwirte arbeiten, auch am Wochenende bei bestem Ausflugswetter.“
„Wenn ein Traktor kommt: Zur Seite fahren, durchlassen. Die Landwirte arbeiten, auch am Wochenende bei bestem Ausflugswetter.“
Ada Fischer, Biolandhof-Bäuerin
Nach Cuxhaven fahre ich durch einen Wald. Den Wernerwald. Ein Wald direkt an der Nordseeküste?
Die Gegend um Cuxhaven liegt auf einem Geestkliff, einem Geestrücken mit Abbruchkante. Das ist eine Besonderheit, die es so nur noch mal in Dangast (und da nur in klein) gibt. Ein Deich ist deshalb nicht nötig. Zum Schutz des Binnenlandes wurde Ende des 19. Jahrhunderts der Wernerwald angelegt.
Das Fenster zum Watt
Den vielleicht schönsten Blick auf das Wattenmeer habe ich durch das Panoramafenster des Wattenmeer-Besucherzentrums. Der stilvolle Holzbau inszeniert die Landschaft als Hauptakturin: Das Wattenmeer als Bühne. Weitere Themen der Ausstellung sind der Vogelzug und die Heide auf dem Geestkliff. Auf den bunten Collagen, diesem ganz besonderen Ausstellungsdesign, sind immer wieder neue Details zu entdecken. „Ich freue mich immer noch darüber. Man kann lange davorstehen und entdeckt auf den Collagen immer neue Details“, sagt Bernhard Rauhut, Biologe und Leiter des Wattenmeer-Besucherzentrums. Seine seine Begeisterung für die Natur und das Haus ist ihm deutlich anzumerken. Er schwärmt von der „wahnsinnsweiten Wattfläche zwischen den Mündungstrichtern von Weser und Elbe“ und der Faszination des Watts: „Das Phänomen der Gezeiten lässt viele Gäste staunen. Eben noch lud die Nordsee zum Baden ein und wenig später liegt der Meeresboden frei.“
Dann kann man von Cuxhaven zur Insel Neuwerk wandern, der Weg ist mit Pricken (Reisigbündel, die in den Wattboden gesteckt werden) gekennzeichnet. Unterwegs gibt es Rettungsbaken. Wer nach Neuwerk möchte, sollte zwei Stunden vor Niedrigwasser losgehen.
Tipps am Nordseeküstenradweg:
Kockens Krabbenbetriebe in Spieka-Nordholz
Alwin Kocken hat die Krabbenschälmaschine erfunden. Super Fischbrötchen und Sitzgelegenheiten für die Pause.
kocken-krabben.de
Melkhus auf dem Biolandhof Fischer
Spezialitäten aus Biomilch, perfekter Pausenplatz.
biolandhof-fischer.de
Wattenmeer-Besucherzentrum Cuxhaven
Das Schaufenster zum Watt: eindrucksvolle Architektur und spannendes Ausstellungsdesign mit bunten Collagen.
nationalparkhaus-wattenmeer.de
Kliff Restaurant & Bar
Nordseetapas und Burger mit krossen Süßkartoffel-Pommes und Blick aufs Meer in Sahlenburg/Cuxhaven
kliff-restaurant.de
Campingplatz Strandgut
Kleiner Platz aus den 1960ern, frisch renoviert. Luxus: die Tiny-Houses. Praktisch: Die Strandgut-Kojen als komfortable Zeltalternative.
Tiny House (2 Pers.) ab 120 Euro, Strandgut-Koje 35 Euro
campingplatz-strandgut.de
Nordseeküstenradweg, Tag 9: Von Sahlenburg bis Cuxhaven
Schlick und Schiffe: Alte Liebe, Schiffsansagedienst und die Kugelbake
Mehr als 30.000 Schiffe passieren jährlich die Aussichtsplattform „Alte Liebe“ an der Elbmündung. Eine Lautsprecheransage informiert über Art, Größe, Herkunft und Ziel der vorbeifahrenden Schiffe. Am Sonntagvormittag kommt die Stimme aus dem Lautsprecher von Jürgen Trinkies, Kapitän und Seelotse in Rente. Er sitzt in einem gemütlichen Häuschen, vor ihm mehrere Bildschirme, dahinter das Panoramafenster auf die Elbmündung. Früher gab es den Schiffsmeldedienst, heute den ehrenamtlich betriebenen Schiffsansagedienst. Übers Internet bekommt Herr Trinkies die Daten, macht sich einen Spickzettel und trägt dann die Informationen zum vorbeifahrenden Schiff vor. Täglich passieren hier 40-50 Schiffe, die werden alle angesagt. Mit möglichst vielen Informationen. „Das ist der schönste Arbeitsplatz in Cuxhaven, hier bin ich allein mit Blick auf die Welt.“ Und die Welt blickt zurück: Die Live-Webcam wird auch aus den USA angeklickt.
Wann ist denn der beste Zeitpunkt zum Schiffe gucken auf der „Alten Liebe“?, frage ich Jürgen Trinkies. „Drei bis vier Stunden vor Hochwasser – denn die großen Schiffe brauchen das Hochwasser, um nach Hamburg zu kommen.
Ich radele noch mal ein Stück zurück, zur Kugelbake. Dort ragt ein Leitdamm etwa 10 Kilometer Richtung Neuwerk ins Wasser. Der Damm verhindert, dass das Watt in die Elbe rutscht. Dadurch verschlickt aber auch der Strandbereich. Der Natur macht das nichts – aber den Menschen. Jeder Eingriff in die Natur hat Folgen, manchmal auch unerwünschte. Das sollten wir bedenken. Wir müssen lernen, mit dem Meer zu leben. Und dafür lohnt es sich, das Meer zu erleben.
Tipp am Nordseeküstenradweg:
Havenhostel Cuxhaven
Modernes Hostel am Nordseekai im Alten Fischereihafen.
havenhostel.de
Offenlegung: Meine Recherchereise auf dem niedersächsischen Teil des Nordseeküstenradwegs wurde vom Tourismusnetzwerk Niedersachsen unterstützt. Der Text „Immer am Deich entlang“ dazu erschien im ADAC Reisemagazin Nr. 189. Geradelt bin ich im Frühjahr 2022, das Rad hat Bergamont mir geliehen. Danke an alle, die für mich organisiert und mich unterwegs so herzlich aufgenommen haben!
Mehr Informationen auf reiseland-niedersachsen.de
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